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REZENSION

BELLETRISTIK

Lorna Sage: Die Anfaenge meiner Welt, Walisische Erinnerungen, Piper Verlag, Muenchen 2005, 19,90 Euro

" Ich war wie ein Gaensekueken, gepraegt durch die erste Mutterfigur, die es sieht - er war mein Bezugspunkt." Lorna Sages Erinnerungen widmen sich zuallererst dem Grossvater, dem Pastor der kleinen walisischen Gemeinde Hanmer, dem " alten Teufel ", wie ihn seine Frau nannte. Gnadenlos ehrlich seziert Lorna Sage ihre Familiengeschichte, die groteske Zuege aufweist, breitet den absurden, hasserfuellten Ehekrieg ihrer Grosseltern, ihre Armut und den gesellschaftlichen Duenkel schonungslos aus. So fuehlt der Grossvater sich in seiner Kirche bei der Totenwache wohler als im Pfarrhaus mit seiner ewig noergelnden, kraenkelnden vom Leben angeblich gestraften Frau, die jegliche Pflichten ablehnt. Auch wenn der Grossvater als Schuerzenjaeger allgemein fuer seine Eskapaden bekannt war, sein Sarkasmus und Alkoholkonsum in der Gemeinde kein Geheimnis waren, ist er der einzige, zu dem sich das Kind hingezogen fuehlt. Er hat ihr das Lesen beigebracht und dafuer ist sie ihm ewig dankbar. Kurioserweise waren alle Buchruecken in den Regalen des Grossvaters geschwaerzt, damit niemand auf die Idee kommen koennte, ein Buch von ihm auszuleihen. Als Aussenseiterin gerade in der Schule konnte Lorna nur durch einen Spielplatz punkten: den Friedhof, den "Mikrokosmos der Ungleichheit". So spielt sie mit ihren Mitschuelern in ihrem Reich Graeberhuepfspiele und Trauerspiele wie die Erwachsenen. Mit dem Gerechtigkeitssinn, den nur Kinder haben, sortieren Lorna und ihre Spielkameraden die Blumen auf den Graebern. Alle Toten sollen den gleichen Anteil an Geschmuecktem haben. Die bigotte, kleine Welt der fuenfziger Jahre bestimmt Lorna Sages Leben, deren gesellschaftlichen Regeln und festen Ordnungen sie sich mit sturem Willen entzog. Nach dem Tod des Grossvaters und der Rueckkehr des Vaters lebt Lorna mit ihren Eltern und der anstrengenden Maenner hassenden Grossmutter, die am liebsten nur im Bett liegt und Pralinen futtert in dem engen Gemeindewohnhaus. Lorna entfernt sich von allem durch die Welt der Buecher oder sie stromert durch die Gegend, kommt zu spaet, da sie die Uhr nicht kennt und bezieht immer wieder Pruegel. Nach der Geburt des Bruders ist sie ihrer Mutter im Haus nur im Weg. Ungeschoent und mit distanziertem Blick beschreibt Lorna Sage die Ehe ihrer Eltern. Die Mutter, eine hilflose Kindfrau, die kein ordentliches Essen zustande bringen konnte und unter krankhaften Essensaengsten litt, traumatisiert von der Ehe ihrer Eltern hat sich als Mann einen Beschuetzer erwaehlt. Lornas Vater praegte seine Militaerzeit. Seine Arbeitskraft steckt er in ein privates, aussichtsloses Unternehmen und mit seinem uebertriebenen Ordnungsdenken stand er sich selbst im Weg. Wenn die Autorin von ihrem Familienleben schreibt, dann zeigt sie unumhuellt die Lebensluegen, die sich hinter den privaten Fassaden abspielten. Lorna Sage lernt durch ihre beste Freundin Gail Vic kennen, ihren ersten Mann. " Das Schaurige und Absurde in Vics haeuslicher Situation war mir wunderbar vertraut. Wir stellten fest, dass wir beide mit Verrueckten geschlagen waren."

Vic und Lorna heiraten mit 17 Jahren und werden, ein Skandal in dieser Zeit, Eltern. Lornas Mutter setzte die Tradition in der Familie fort, indem sie sich um ihr Enkelkind kuemmert. Lorna Sage wird mit dieser Tradition brechen. Die Authentizitaet ihrer Lebenserinnerungen bereichern die 21 schwarz- weiss Fotographien aus dem Familienalbum.

Lorna Sage erzaehlt mit psycholgischem Scharfsinn, markant, lakonisch und schonungslos vom Leben auf dem Land. Ihre szenische, detailreiche Sprache zeichnet ein genaues, dabei unsentimentales Bild von allen Orten, Personen und Stimmungen. Dabei spart sie die komischen Seiten ihrer Familiengeschichte nicht aus, laesst den Leser aber auch deutlich die eigene Einsamkeit, die Abwesenheit der Liebe und die Kaelte auf den Schlachtfeldern der Ehen zwischen ihren Grosseltern und Eltern deutlich werden. Es scheint so als wollte sie diese Zeit mit allen Schmerzen beim Schreiben nochmals durchleben und so ihren Frieden finden. Kurz nach der Verleihung des renommierten Whitebread Preises fuer " Die Anfaenge meiner Welt " 2001 starb Lorna Sage.


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